Die drei Gefäße

Vor einigen Jahren lebte ein wundersames Trio in meinem alten Küchenschrank. Aus meiner Zeit bei der heimischen Armee hatte ich einen einfachen Becher aus getriebenem Aluminium mitgebracht, den ich seitdem nur selten nutzte und der schon bessere Tage gesehen hatte. Als bleibende Erinnerung an die gemeinsame Vergangenheit hatte er einige kleinere Beulen in seiner gräulichen Oberfläche davongetragen und über den nicht mehr ganz ebenen Boden zogen sich einige hässliche Kratzer, vom regelmäßigen Auslöffeln der dünnen Suppe, die es als karge Ration im durchregneten Biwak gegeben hatte. Er war etwa eine gute Handbreit hoch und von ähnlichem Durchmesser. Ein schmaler und inzwischen etwas schief gebogener Henkel diente der einfacheren Handhabe.

Ihm zur Linken stand ein schlankes und langstieliges Weinglas. Es stammte noch von der ehemaligen Aussteuer meiner lieben Großmutter und war das letzte Exemplar einer kristallenen Sechsergruppe. Die anderen edlen Mitglieder dieser erlauchten Familie waren in den verstrichenen Jahren der beklagenswerten Ungeschicklichkeit der verschiedenen Benutzer oder dem heißen Wasser des trüben Spülbeckens zum leidigen Opfer gefallen. Feine Linien und schlanke Gravuren webten auf dem anmutig geschwungenen Kelch ein engmaschiges Netz floraler Muster und zeugten von der hohen Kunstfertigkeit vergangener Jahrhunderte.

Die komplettierende Dritte in dem so unterschiedlichen Trio war eine zitronengelbe Schnabeltasse mit einem überproportionierten Entenkopf als kunstvollem Ausguss. Der breite Schnabel wurde von den kargen Resten einer orangenen Farbe verunziert und auch das ausgeblichene Schwarz und das vergilbte Weiß der aufgemalten Augen waren nur noch rudimentär vorhanden. Diese alberne Scheußlichkeit war nur deshalb noch nicht den bekannten Weg alles sterblichen Irdischen gegangen, weil sie einst meiner kleinen Tochter gehört hatte und mich auf sentimentale Weise an die abenteuerlichen Zeiten einer jungen Familie erinnerte. Aber die fröhlichen Kindertage meiner lieben Jüngsten waren schon länger vorbei und selbst die zahlreichen Enkel waren inzwischen in einem vorangeschrittenen Alter, und reagierten nur noch peinlich berührt auf derartige kindliche Erinnerungsstücke.

So fristeten diese skurrilen Drei ein ruhiges Leben in der hinteren linken Ecke meines betagten Küchenschrankes und träumten wohl gemeinsam von aufregenderen Zeiten.
So hätte ich zumindest geglaubt, wenn ich überhaupt je einen bewussten Gedanken an sie gehabt hätte. Doch welch merkwürdiges Bild bot sich mir, als ich zu später Stunde in die verlassen geglaubte Küche kam, in der harmlosen Absicht, meine lästigen und erkältungsbedingten Schlafstörungen mit einem großen Becher heißer Milch mit dunklem Honig zu kurieren: Der volle Mond stand hoch am vermeintlich sternenlosen Himmel, umgeben von einigen dünnen Wolken, sodass es aussah, als habe er einen langen Mantel mit weißem Pelzkragen angelegt. Derart majestätisch angetan, strahlte er sein fahles Licht direkt in meine kleine Küche. Vor dem breiten Fenster hatte ich am gestrigen Abend die geteilte Gardine zu den beiden Seiten gezogen, um bei gekipptem Fenster etwas frische Luft hinein zu lassen. Nun bildete die dunkle Gardine, einem beiseite gezogenen Bühnenvorhang gleich, den stilvollen Rahmen des seltsamen Schauspiels. Auf dem hölzernen Fensterbrett aber tanze mein zum Leben erwachtes Geschirr im fahlen Mondlicht!
Dem alten Armeebecher waren silbrige Beine gewachsen, die in schwarzen Schühchen endeten. Kleine Hände steckten in hellgrauen Handschuhen. Aus den helleren Flecken und den dunkleren Verfärbungen sowie den verschiedensten Kratzern, die im Laufe seines langen Lebens ihre tiefen Eindrücke hinterlassen und seine matte Oberfläche verunstaltet hatten, war ein charaktervolles Gesicht entstanden, mit freundlichen Augen und einem fröhlichen Lächeln. Nun führte er das ebenfalls nicht mehr junge Weinglas zum gemeinsamen Tanze und wiegte sich mit diesem zu einer für mich unhörbaren Musik im stillen Takte.
Das edle Kristallglas erstrahlte im hellen Glanze des lunaren Lichtscheins unseres loyalen Trabanten. Ein strahlendes Glitzern und blitzendes Funkeln ging von ihm aus, wenn die silbrigweißen Strahlen auf die feinen Gravuren trafen und in alle möglichen Richtungen reflektiert wurden. Die kleinen Luftblasen im schlanken Körper des mundgeblasenen Weinglases taten ein eifriges Übriges, ließen wilde Kaskaden von bunten Lichtreflexen über die hölzerne Bühne dieses wundersamen Schauspiels wandern. Wie ein langes Kleid aus tausenden Brillianten wirkte diese gläserne Darbietung tanzender Lichter und verlieh dem großmütterlichen Weinglas ein aristokratisches Aussehen. Die durchscheinenden Arme und fragilen Hände hatte es dem metallenen Kameraden gereicht und teilte seinen ebenso stillen wie offenbar vergnüglichen Tanz.
So drehten sich die ungleichen Partner, vollführten stilvolle Promenaden, schwungvolle Drehungen und elegante Platzwechsel. Wohl einige Minuten dauerte dieses anmutige Vergnügen, dann wandten sie sich dem hässlichen Entlein zu. Auch dieses gelbe Plastikteil hatte den sicher beschwerlichen Weg aus dem antiken Wandschrank zum leeren Fensterbrett unternommen und bisher alleine zur magischen Musik getanzt. Mit einer unerwarteten Eleganz hatte es seine eigenen Kreise gedreht, elegante Bögen getanzt und sogar eine stilvolle Pirouette vollbracht, die jedem erfahrenen Eisläufer zur verdienten Ehre gereicht hätte. Nun wandte es sich den beiden Gefährten zu und die lustigen Drei legten sich einander die kleinen Arme auf die steifen Schultern. Gemeinsam begannen sie sodann einen fröhlichen Reigen, der mich an die stimmungsvollen Feste eines weit zurückliegenden Griechenland-Urlaubes erinnerte. Im flotten Takte eines imaginären Sirtaki klopften ihre kleinen Füße auf das gemaserte Holz. Es war ein blechernes Scheppern, ein klirrendes Klingen und ein stumpfes Klopfen, je nachdem, wer von ihnen gerade an der Reihe war.
Wie viele weitere Tänze dieses lustige Trio noch genoss, kann ich nicht sagen, denn ich zog mich nun zurück. Ein übler Hustenreiz quälte mich derart, dass ich ehrliche Angst bekam, dies unpassende Geräusch könnte das magische Treiben unterbrechen. So schlich ich, die linke Hand vor den mühsam zusammen gepressten Mund gehalten, durch den kalten Flur zurück in mein warmes Schlafzimmer. Dort gab ich dem lästigen Drängen meines gepeinigten Halses nach. Dann legte ich mich wieder ins gemütliche Bett und bettete mein müdes Haupt auf das weiche Kissen. Die heiße Milch hatte ich ob des wundersamen Schauspiels längst vergessen. Soweit ich mich erinnern kann, träumte ich in dieser Nacht nicht von tanzenden Gläsernen und anmutige Pirouetten drehenden Bechern, aber wer kann das schon nach solch einem verwirrenden Erlebnis mit ehrlicher Gewissheit sagen?